Drohende Lieferanteninsolvenz – Worauf der Einkauf jetzt achten muss!

Immer mehr Einkäufer sorgen sich um ihre Lieferanten. Was passiert, wenn die Aufträge wieder zunehmen, aber der Lieferant insolvent ist? Ein Blick nach China zeigt, dass sich die Wirtschaft schnell erholt, sobald die Pandemie beherrschbar scheint. Die Abhängigkeit von nur einem Lieferanten bei einem wichtigen Produkt kann daher rasch zum Problem werden.

Im April letzten Jahres konnte bei einer meiner Umfragen unter Einkaufsexperten auf Social Media von Problembewusstsein noch nicht die Rede sein. Während dem Thema „Lieferanteninsolvenz“ von allen Teilnehmern zwar eine hohe aktuelle Relevanz zugesprochen wurde, waren die wenigsten von ihnen zur Abwendung der lauernden Gefahr aktiv geworden. Auf meine Frage „Haben Sie die Lieferkette im Blick?“, lautete die Antwort umgehend: „Wir haben momentan ganz andere Probleme.“ Doch mittlerweile wächst die Nervosität, denn viele Branchen sind von Liquiditätsengpässen betroffen. Das Aussetzen der Meldepflicht für über- schuldete Unternehmen bis Ende 2020 sowie die Tatsache, dass im letzten Jahr die Anzahl der Insolvenzen im Vergleich zum Vorjahr rückläufig ist, verstärkt die Unsicherheit aufseiten der Industrie. Im Corona-Jahr weniger Insolvenzen? Wahrscheinlicher ist es doch, dass sich im Fahrwasser staatlicher Hilfen und mit dem Aussetzen von Meldepflichten auch sogenannte „Zombie-Unternehmen“ befinden. Firmen, die auch ohne Pandemie in Schieflage geraten wären. Diese wiederum könnten andere in Gefahr bringen. Bedauerlicherweise kommen bewilligte staatliche Hilfsgelder bei coronabedingt und unverschuldet in Liquiditätsengpässe geratenen Unter- nehmen nur schleppend an. Auch das Inkrafttreten des neuen EU-Insolvenz- rechts zum 31. Dezember 2020 trägt zur Verunsicherung bei. Schließlich hilft es in Not geratenen Unternehmen mehr als ihren Gläubigern, wenn auch nicht in dem Maße, wie von vielen befürchtet. Denn die Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens von sechs auf drei Jahre basiert auf den bisherigen Erfahrungen mit Insolvenzen. In der Regel gelang es innerhalb von drei Jahren, in den meisten Fällen eine signifikante Befriedigungsquote zu erreichen. Längere Verfahren haben häufig nicht mehr gebracht und die längere Ungewissheit aufseiten der Gläubiger hat nur unnötige Energien gebunden.
In dieser Gemengelage wichtige Entscheidungen zu treffen, fällt nicht leicht. Für den Einkauf lautet das Gebot der Stunde, alles Notwendige und Machbare zur Sicherung der Lieferkette zu unter- nehmen. Konkret bedeutet das:

Ein Projektteam mit Fokus auf die Lieferkette bilden

In der Automobilbranche wurden im letzten Jahr Task Forces zusammen- gestellt, die sich ausschließlich mit der Sicherung der Lieferkette befassen. Die Top 15 der Lieferanten wurden hierbei in den Fokus genommen. Das ging so weit, dass einem wichtigen Zulieferer sogar finanzielle Unterstützung angeboten wurde, um bei Liquiditätsengpässen zu helfen, anstatt hilflos zuzusehen, wie er in die Zahlungsunfähigkeit schlittert. Für kleine und mittel- ständische Unternehmen ist es ebenfalls ratsam – wenn auch im kleineren Maßstab – ein Projektteam zusammen- zustellen, das die Lieferkette unter die Lupe nimmt. Auch externe Experten können hier weiterhelfen.

Nähe zum Lieferanten schaffen

Der Dialog zum Lieferanten darf nicht abreißen, Probleme und Sorgen müssen offen angesprochen werden. Eine realistische Einschätzung darüber, ob einem Lieferanten aufgrund der Pandemie die Überschuldung droht, ist von außen oft schwer zu leisten. Notwendig ist es daher, alle Indikatoren heranzuziehen, um dies zu beurteilen.

Akribische Kenntnis der Warengruppe

Keine Seltenheit bei kleinen und mittel- ständischen Unternehmen: Die technischen Spezifikationen der Warengruppen sind dem Einkäufer nicht genügend bekannt. Jemand hat vor 30 Jahren immer das Produkt XY bestellt, aber was das genau ist, weiß niemand mehr. Solche Wissenslücken müssen jetzt schnellstens geschlossen werden: Was ist das für ein Produkt,  aus welchem Material ist es, welche Funktion übernimmt es bei der Produktion? Das lässt sich oft nur gemeinsam mit der Produktionsabteilung klären. Wie soll sonst nach einer Alternative gesucht werden? Es klingt banal, ist es aber (leider) nicht: Einen neuen Anbieter finde ich nur, wenn ich weiß, was benötigt wird.

Abkehr von der schlanken Bieterliste

In der Automobilindustrie wurde in den letzten Jahren stets darauf geachtet, die Bieterliste kleinzuhalten. Das brachte Einsparungen beim Handling. Es ist davon auszugehen, dass es auch in anderen Branchen, insbesondere bei KMU, ähnlich gehandhabt wurde. Spätestens jetzt sollten es wieder drei Top-Lieferanten pro A-Produkt sein.

Neue Priorisierung bei den „Big Five“ des Einkaufs prüfen

Die „Big Five“ im Einkauf lauten „Preis, Service, Technologie, Qualität und Nachhaltigkeit“. Für manchen bedeutet das jetzt in der Pandemie – aufgrund von bestehenden oder drohenden Lieferengpässen – Abstriche bei den Preisverhandlungen machen zu müssen. Auch wird teilweise wieder mehr im Inland produziert, weil so der Nachschub einfacher zu gewährleisten ist. Es kann daher sinnvoll sein, einen höheren Preis in Kauf zu nehmen, statt die Produktion auf Sparflamme zu halten.

Kluges Handeln im Worst-Case-Szenario

Geht der Lieferant in die Insolvenz, ist der Handlungsspielraum für Gläubiger extrem eingeschränkt. Daher heißt das Zauberwort „vorausschauend“ agieren. Schauen Sie in Ihre Verträge, klären Sie das Prozedere im Falle eines Falles, bevor es zur Insolvenz kommt. Hat der Einkäufer Forderungen gegenüber dem Lieferanten, muss er sich nach Eröffnung des Verfahrens an den Insolvenzverwalter wenden. Über Maschinen, die mitfinanziert wurden oder sogar dem Unternehmen gehören, lässt sich nur noch bedingt verfügen. Das gilt teilweise selbst dann, wenn es sich um beigestellte Werkzeuge handelt, die der Kunde dem Lieferanten unter Eigentumsvorbehalt zur Verfügung gestellt hat. Besonders schwierig wird die Abwicklung, wenn diese im Ausland stehen. Sich dieses Szenario vor Augen zu führen, hilft dem Einkäufer dabei, im Vorfeld alles zu tun, um einer zu großen Abhängigkeit vom Lieferanten entgegenzuwirken.

Das Interview führte Dr. Achim Knips / Wirtschaftsraum Hanau-Kinzigtal 03/2021
Wirtschaftsraum Hanau-Kinzigtal


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